Über die Nervosität der Erdhaut —
Zur Naturreflektion in Landschaftszeichnungen von Ingo Garschke

von Jan Nicolaisen

Von der Natur zum Biotop

Gebirge, Flüsse, Meere und Wälder sind Lebensräume, die seit Urzeiten existierten, bevor sie von Menschen durchquert, besiedelt und benannt wurden. Ihre Entdeckung erweiterte das Gesichtsfeld und stimulierte neue Strategien des Überlebens (z.B. zum Jagen, Sammeln, Hüttenbauen), die im Schatten der bedrohlichen Umwelt erprobt wurden. Das Verhältnis des Menschen zur Natur war ambivalent, meist feindlich, im besten Fall nutzorientiert. Etwa seit dem 18. Jahrhundert hat sich eine neue Kultur des „Mitgefühls“ gegenüber der Natur ausgebreitet, das mit der Entwicklung der Naturwissenschaften, dem besseren Verständnis biologischer Vorgänge und der Beobachtung massiver Auswirkungen menschlicher Tätigkeit auf die Natur einherging. Wenn heute von bedrohten Biotopen gesprochen wird, kann das den Charakter religiösen Klagens annehmen. Die Eigenmacht naturhafter Kräfte, die das gerade noch Zuständliche in einen Prozess verwandeln, gerät dabei etwas aus dem Blick. Wer sich geologische Zeitabläufe vorstellt, braucht keine apokalyptischen Visionen menschheitsbedrohender Fischschwärme, um angesichts von Gebirgsformationen über die Dauer, Dramatik und Energie der Erddynamik zu staunen, mit allen ihren Folgen für das seit mehreren hundert Millionen Jahren existierende pflanzliche, tierische und in Mitteleuropa seit etwa 40.000 Jahren belegte menschliche Leben. In diesem Spannungsfeld aus Reflektion über die eigenen Möglichkeiten, der Natur zu begegnen, und der Spurensuche nach ihren wandelbaren Existenzformen sind die Landschaftszeichnungen von Ingo Garschke verortet.

Man trifft in ihnen eine für die Gattung der Landschaftszeichnung seit der Renaissance typische Polarität von naturwissenschaftlich-objektiver und ästhetisch-emotionaler Herangehensweise an. Viele Blätter gehen von topographischen Vorstudien aus, die auf Reisen und Wanderungen entstanden sind. Bereits die Erstbegegnung mit der Landschaft, die sich im Skizzenbuch niederschlägt, sucht also nach Überblick und Orientierung innerhalb eines größeren räumlichen Zusammenhanges. Auf dieser quasi kartographischen Grundlage entstehen im Atelier bildhafte Blätter, die zum Teil sehr große Formate einnehmen. Während die der Topographie nachfolgende Linie objektiv gebunden ist, dringt Ingo Garschke während des Zeichnens von der Äußerlichkeit des Landschaftsbildes in das Innere vor. Die Dominanz des monochromen graphischen Helldunkels, die partielle Auflösung des Gegenständlichen in Andeutung und Abstraktion sowie das „Spiel“ mit narrativen Elementen sind Strategien, dem Gegebenen eine subjektive Handschrift entgegenzustellen.

Landschaft als Ereignis

Ingo Garschke versucht die Dramatik und Theatralität, die dem Hochgebirge und dem Gletscher, der Arktis und der Wüste als Urformen von Landschaft zueigen sind, in das Bild zu übertragen. Die Zeichnungen dienen dem Einfangen und Bannen des Überwältigenden, das von Landschaft ausgehen kann. Vor diesen hoch- und breitformatigen Arbeiten steht man wie vor einem monumentalen Panorama, in dessen Bildfolge und topographischen Leseprozess nun auch Abläufe von Ereignissen eingeschrieben sind. Bereits die Titel einiger Blätter deuten das an: „Erosion“, „Schmelze“, „Bergsturz“ stehen für Handlungen in der Zeit. In „Erosion“ stürzt ein sintflutartiger Wasserstrom auf den Betrachter herab. Dunkel und zerstörerisch bahnt sich das Wasser seinen Weg über hohe Klippen, dabei Gestein, Stämme und Häuser mit sich reißend. Über diesem Chaos erhebt sich eine Weltenlandschaft mit einer fernen Gebirgskette, ruhig und erhaben in detailliert gezeichneter Kontur und in mit Tusche weich modellierten Grautönen, deren Sfumato Anklänge an Leonardo da Vincis Landschaftszeichnungen zeigt. Dauer und Augenblick, Naturfrieden und Naturgewalt sind in dieser Landschaftshistorie kombiniert.

Die Berge wirken wie ein steinernes Amphitheater über der Bühne des Wassersturzes. Auf beiden Seiten wird diese Szene flankiert von offen gelassenen, nur angedeuteten Landschaftsausschnitten. Auf der einen Seite sieht man eine häuserbestandene Ebene unter einer hohen Felswand oder Staumauer, auf der anderen eine Stützmauer über dem Wasser. Das Thema des Schutzsuchens vor der Erosion, vor der Auflösung des festen Grundes, und das Ausgeliefertsein gegenüber diesen Kräften, die in einem anderen als menschlichen Maßstab wirken (und inszeniert sind), wird hier nochmals betont. Von den Seiten her betrachtet wirkt das ganze Landschaftsbild wie eine Modelllandschaft, d.h. wie das Bild einer Landschaft, die ein Konstrukt ist.

Das Motiv des abstürzenden Berges hat Garschke in drei weiteren hochformatigen Zeichnungen variiert. Stakkatohaft sind schwarz verschattete Fichtenstämme an- und übereinander gereiht, ihre Dunkelheit kontrastiert zu gleißend hellen Partien, in denen die Zeichnung sich auflöst und das weiße Papier zu Licht wird. Am Waldrand stehen immer wieder Hütten und Häuser, deren kubische Formen und wie mit dem Dreieck gezogene Dachschrägen wie Fremdkörper oder vergessenes Spielzeug in der wilder und differenzierter gewachsenen Landschaft wirken. Sie erinnern an die standardisierten Fertigbauhütten aus Holz, die man am Rand der Parkplätze von Baumärkten sieht. Garschke bevölkert seine Zeichnungen mit den Unterschlüpfen von verirrten Siedlern. Hier herrschen statt Heimatgefühl und Idylle der Krach berstender Stämme und das Aufeinanderschlagen des Gerölls, die Entwurzelung und das Chaos.

Die Richtungen sind innerhalb der Landschaftszeichnungen gegensätzlich ausgeprägt: Der phlegmatischen Horizontalität des lagernden Gebirgmassivs oder des dahinströmenden Flusses steht die Vertikalität von Bergsturz, Wasser- und Lichtkaskaden gegenüber. Ähnlich wie mit dem Plattenton einer Radierung sind ganze Partien schwarzbraun eingefärbt, um die Dramatik der Handlung durch die Lichtregie zu unterstützen. Gegenüber den kräftig konturierten Baumstämmen, Steinen und Häusern in Vorder- und Mittelgrund sind die fernen Gebirgspartien oft zart und fein gezeichnet. Der Berg, das nicht zu domestizierende Ungetüm, das „alter ego“ dieser Blätter, wird in dunstiger Idealität präsentiert.

Anatomie und Geologie

Der Zeichner lädt die Landschaft symbolisch auf, weckt Vorstellungen von Orientierungs-, ja Weltverlust, lässt aber zugleich eine Begeisterung für die Physiognomie und Anatomie des „Erdlebens“ erahnen, die an den romantischen Maler, Mediziner und Theoretiker der Landschaftskunst Carl Gustav Carus (Leipzig 1789 - 1869 Dresden) erinnert. Dieser meinte mit dem Begriff des „Erdlebens“ die physiognomisch-morphologische Methode, jede natürliche Gestalt auf ein ihr zugrundeliegendes Urphänomen bzw. auf eine innere Struktur zurückzuführen und als bedeutenden Augenblick im dauerhaften Gestaltwandel zu begreifen.1) Carus hielt seine dynamische Auffassung der Erdgeschichte als inspirierendes Moment des Landschafters in einem Bericht über eine Riesengebirgsreise fest: „Hatte ich bei Rügen zum ersten Male die größeren Wellen der See kennengelernt, so war mir dies Gebirge wie eine große beruhigte Welle an der Erdfeste des Planeten. Überall erkennt man zwar noch das harte, starre Gerüst des granitenen Skeleton dieser Höhenzüge, aber nur einzelne Klippen, und diese meist als Trümmerhaufen, ragen aus dem schon durch vieltausendjährige Verwitterung gerundeten, dem organischen Leben wieder zugänglich gewordenen erdigen Überzug, als von weitem kaum merkbare Störungen der großen Wellenlinien des Ganzen heraus!“2)

Ingo Garschke, der an der HGB Leipzig das Fach Anatomie unterrichtet, ist in vergleichbarer Weise am anatomisch-geologischen Aufbau der Erdschichten interessiert. Das spiegelt sich nicht nur in vielen Zeichnungen wider, sondern auch in dem Antrieb, ein plastisches Modell einer Vorharzlandschaft anzufertigen, das deren geologisch-tektonische Entstehung anschaulich nachvollziehbar macht. In den französischen Cevennen folgt sein Blick einem Canyon, der sich wie ein Riss durch die Erdscholle zieht. Eine andere Zeichnung zeigt die von Wind, Wasser und Druck glatt geschliffenen Felsen einer Landschaft, deren Hebungen und Senkungen weich wie eine faltiges Tischtuch wirken (Cevennen 03, Verwerfung 02). Die Zeichnungen halten die morphologische Urgewalt der Zeit fest. Der Künstler fokussiert hier nicht auf das Detail, sondern auf das Strukturgerüst. Der Begriff der Struktur ist ihm wichtig als Gesetzmäßigkeit, Regelhaftigkeit und Bauplan, als Substanz des geologisch Gewordenen, wie abgelagerte Schichten oder Flusstäler, die lang wirkende Erd- und Zeitkräfte unverwechselbar und einzigartig gemacht haben, obgleich der Typus der geologischen Formationen vielfach wiederholt worden ist. Als Zeichner fühlt sich Ingo Garschke in jene schwer greifbaren Zeiträume ein, um das Atmen der Erdhaut sichtbar zu machen.

Die Synthese der gegensätzlichen Qualitäten von hart/weich, versteinert/liquid erprobt er in mehreren Blättern am Motiv des Flusses, dessen Wasserspiegel zum Ausgangspunkt für Spiegelungen, flächig-tonige Schattenmuster, insgesamt für eine stärker amorphe, informelle Darstellung wird. Statt der dramatischen Ausdruckswerte der heroisch-apokalyptischen Landschaftsbilder bieten diese meist kleinformatigeren Zeichnungen, in denen der träge dahinströmende Fluss die Hauptrolle spielt, einen ruhigeren, fast meditativen Anblick, der zur Versenkung einlädt. Auch Gebirge werden in ruhigen, porträthaften Zeichnungen beschrieben, die weniger narrativ als studienartig aufgefasst sind.

Mitteldeutsche Projektionen

Ingo Garschke wendet sich in seinen Zeichnungen nicht nur dem Hochgebirge zu, sondern bevorzugt auch den Mittelgebirgen wie Harz, Erzgebirge, Böhmer und Thüringer Wald. Das Mittelgebirge mag für den aus Saalfeld in Thüringen Stammenden eine Reminiszenz an seine Heimat darstellen. Außerdem ist es ein prototypisches Stück deutscher Landschafts- und Kulturgeschichte, in dessen Zentrum der mythenbeladene Wald steht. Garschke hat ihn oftmals gezeichnet, die nervösen und doch regelmäßigen dreieckigen Muster der Fichten zu urdeutschen Bildteppichen verwoben. Dieser Wald ist nicht vordergründig pittoresk aufgefasst, sondern als strukturierte, von Wegeschneisen durchzogene, letztlich hochgradig ökonomisch genutzte Pflanzlandschaft. Trotzdem besitzen seine Dunkelheit und visuelle Undurchdringbarkeit ein Potential des reizvoll Verborgenen, des märchenhaft oder unheilvoll Fremden. Tiere nutzen dieses als Versteck. Der im Topographischen oft analytische Blick des Zeichners dringt hier bewusst nicht vor, wahrt Distanz hinter einem Zaun, lässt der Kulisse ihr Dasein. Hierfür steht ein Blatt wie „Böhmerwald 2“, auf dem wir im Hintergrund das vage Versprechen einer dunstigen Gipfelferne sehen, während vorne ein Fichtenareal steht, eine hölzerne Monokultur. Wald und vereinzelter Baum sind keine romantisch beseelten Lebewesen, sondern Requisiten, die sich zu opaken Flächen verdichten.

Ingo Garschke kombiniert exakte Schilderung und verfremdende Darstellung. Er verschmilzt Versatzstücke von Landschaft. Seine Landschaften sind, bei aller Beobachtung vor der Natur, Zitate ihrer selbst geworden, Konstruktionen menschlichen Wirkens und menschlicher Phantasie. Der gleiche „homo sapiens“, der Forstwirtschaft betreibt und die Alpen zersiedelt, fühlt sich in einem dunklen Fichtenwald an Hänsel und Gretel erinnert. Um diese Mitte kann er nicht herum. Das Mittelgebirge ist für den Künstler vielleicht so etwas wie der emotionale mittlere Breitengrad seiner subjektiven Vermessung der Welt. Das Mittlere, Ausgewogene lockt indessen das Dämonische, Grenzüberschreitende hervor. Der Zeichner ist an dieser Polarität interessiert. Das wird schon durch das Nebeneinander der ruhigen Flusszeichnungen und der dramatischen Bergstürze, der Mittel- und der Hochgebirgsszenarien deutlich.

Ein besonderes Kennzeichnen vieler Blätter ist neben der Ausdruckskraft der zeichnerischen Linie der virtuose Gebrauch des Lichtes. Hell und Dunkel dienen zur Modellierung des Landschaftskörpers, dessen Oberfläche in einer unruhigen Bewegtheit unter oft gewitterhafter Beleuchtung ausgebreitet wird. Hier tritt eine plastische Dimension der Landschaften hervor, die Garschke als ausgebildeten Bildhauer reizt. Das Licht macht die Landschaft zu einem in unterschiedlichen Temperamenten Erscheinendem. Wenn das Licht sich in mehreren Zeichnungen wie ein spitzer Kegel aus dem Himmel in das Dunkle des Irdischen ergießt, verleiht es einigen Landschaften einen transzendentalen Aspekt, zumindest die Ahnung größerer als menschlicher Kräfte. Dem lässt sich eine merklich ernüchterte Zeichnung gegenüberstellen: Eine Straßenlaterne wirft ihren elektrischen Lichtkegel in die gespenstische Leere und Tristesse eines anhaltinischen Straßendorfes im Vorharzland: von der Geologie des Vorzeitlichen in die ostdeutsche Provinz jenseits der A 38. Vorherrschend ist jedoch das Eigenlicht der Landschaft, das ihre Areale verdunkelt und erhellt, verschliesst und öffnet.

Zwischen destruktiven und stoischen Kräften

Die Landschaft war schon immer geeignet, Emotionen und Gedanken aufzunehmen und widerzuspiegeln. Insbesondere die alpine Landschaft diente der Einkleidung neuzeitlicher, humanistischer Vorstellungen. Albrecht Dürer stellt in seinem berühmten Kupferstich „Das große Glück“ (1501-03) die Schicksalsgöttin auf eine Weltkugel, die hoch über dem Eisacktal schwebt, dessen Topographie aus der Vogelperspektive exakt geschildert ist. Dass die launige Nemesis (und nicht Gott) für das Geschehen in diesem realistisch porträtierten Landstrich verantwortlich ist, ist eine nachmittelalterlich geprägte Vorstellung. Pieter Bruegel d.Ä., der auf dem Rückweg von Italien nach Brüssel ebenfalls die Alpen überquerte, zeichnete um 1555 großformatige alpine Überblickslandschaften. Er war mit Abraham Ortelius befreundet, einem berühmten zeitgenössischen Kartographen. Bruegels Überschaulandschaften, die als Kupferstiche reproduziert wurden - auf einem Blatt vollzieht sich z.B. als winzig kleine Begebenheit der Sturz des Ikarus - dienen als „Folie, vor der die Reflexion über das Menschenmögliche eingefordert wird und bei der angesichts der zahllosen vielfältigen dargestellten menschlichen Aktivitäten zu Wasser und zu Lande der Gedanke der Relativität und Selbstbescheidung wohl aufkommen kann, zugleich aber der entwerfende Künstler über all dies in seinem Zusammenhang verfügt“.3) Ingo Garschkes Landschaftszeichnungen stehen in dieser Tradition. Das Übertriebene, Unmäßige der zugleich fantastischen und beobachteten Bergwelten, die bis in extreme Fernen seismographisch verfolgt werden, ist eine Form der symbolischen Landschaft, die den Betrachter (der in ihr mit den Augen wandern kann) gerade durch das Imaginäre auch zur Reflektion über dämonische Vermessenheiten anregen kann. Gilt es möglicherweise, nicht nur den unendlichen Landschaftsraum, sondern sich selbst als Menschen zu entdecken?

Die Landschaftszeichnungen besitzen in ihrer partiell bekenntnishaften Schilderung der Folgen menschlicher Hybris (z.B. Klimawandel) kritisches Potential. Zugleich reflektieren sie in ihrer Konstruiertheit und diese Künstlichkeit betonenden Formensprache auch die Historizität von Landschaftsbildern. Nicht nur die Geologie, sondern auch die Geschichte unserer Wahrnehmungen ist landschaftsprägend. Das heisst, diese Landschaften werfen uns auf uns selbst zurück, sie sind ebenso geistige wie „Seelenlandschaften“, die auch die Klage über den Verlust einer Landschaft als emotionale Spiegelung einer gegenüber dieser Empfindsamkeit gleichgültigen Natur veranschaulichen. Bei aller observierenden Durchdringung und überblicksartigen Schilderung aus der Vogelperspektive arbeiten die Zeichnungen konsequenterweise den hermetischen Charakter eines unzugänglichen Landschafts-Gegenübers scharf heraus. Die Linien umreissen auch Leerräume.

Die Verwerfungen seiner Landschaften sind für den Künstler letztlich auch Bilder des Ich. Sie sind topographische Psychogramme, Stimmungslandschaften zwischen Selbstfindung und Selbstverlust, deren imaginäre Räume in ihnen ausgebreitet werden. Hierbei geht es nicht um die Befindlichkeit des Künstlers, sondern um die atmosphärischen Werte, die Naturbebachtung bietet. Äußere und innere Natur sind einander zugehörig. Das wird deutlich in der Zeichnung „Schmelze“, in der wir als seltenes figürliches Motiv den einbeinigen Kapitän Ahab aus Herman Melvilles „Moby Dick“ (1851) an einen Gletscher oder Walbug mit der Harpunleine gefesselt sehen. Er ist, in den Worten des Künstlers, „ein Wahnsinniger der sich im Kampf mit der Natur befindet und verliert, in erster Linie gegen seine eigene Natur. Jemand der sein Gegengewicht verloren hat und sozusagen freidreht.“ Ahab, der den weißen Wal jagt, hasst und mit ihm untergeht, ist ein Sinnbild für die Verstrickungen des Menschen in seine eigene dunkle Seelenlandschaft. Gier und Getriebenheit leuchten hier magisch und destruktiv auf. Das schrecklich-schöne Schlussmotiv des Abenteuerromans ist von der Dramatik der Wirklichkeit längst überholt: Eine eisfreie Nordwestpassage mit Containerhafen in der Arktis, zu Melvilles Zeiten unvorstellbar, ist durch den Klimawandel in Reichweite gerückt. Um die territorialen Ansprüche auf diese Gebiete wird rivalisiert. Ingo Garschke, der sich seit Jahren mit dem Thema des Wals beschäftigt, lenkt den Blick anhand dieses Motivs auf den Menschen als Jäger, der zum Gejagten seiner Maßlosigkeit wird. Die Erosion seiner Grenzen findet in ihm selbst statt. Die dämonische Anziehungskraft des Extremen und die Missachtung des Realitätsprinzips ist diesen Zeichnungen ebenso eingeschrieben wie ein Stoizismus, der im Chaos nach Gleichgewicht und Besinnung auf sich selbst sucht. Das ist ein utopisches Moment der Zeichnungen.

1) Vgl. Jenns E. Howoldt, Von Caspar David Friedrich zu Carl Gustav Carus. Landschaftsmalerei zwischen ästhetischer Autonomie und wissenschaftlichem Anspruch, in: Ausst.-Kat. Expedition Kunst. Die Entdeckung der Natur von C.D. Friedrich bis Humboldt, Hrsg. Jenns E. Howoldt und Uwe M. Schneede, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2002, S. 10.

2) Zitiert nach ebd., S. 12.

3) Zitiert nach Werner Busch (Hrsg.), Landschaftsmalerei, Berlin 1997, S. 19.

Dr. Jan Nicolaisen ist Leiter der Sammlung Malerei und Plastik
am Museum der bildenden Künste Leipzig
http://www.mdbk.de/start.php4?id=131